Stuttgart 15.03.23 Nur mit einer zügigen und konsequenten Mobilitätswende wird die Landesregierung ihre Klimaziele erreichen, mahnt die Allianz Mobilitätswende für Baden-Württemberg. Bei einer Veranstaltung im Gewerkschaftshaus brachten Vertreter*innen der Allianzmitglieder ihre Anforderungen ein: Wie muss das vom Verkehrsministerium erarbeitete Landeskonzept Klima und Mobilität umgesetzt werden, damit der CO2-Ausstoß im Verkehrssektor bis 2030 auch tatsächlich um 55 Prozent sinkt? Der DGB, Umwelt-, Verkehrs- und Sozialverbände diskutierten mit den Spitzen der demokratischen Landtagsfraktionen über die nächsten Schritte.
Zum Auftakt ordnet der VCD-Landesvorsitzende Matthias Lieb die Mobilitätswende in das System der Klimaziele ein, beginnend mit der völkerrechtlichen Verpflichtung von Paris bis hin zum baden-württembergischen Klimaneutralitätsziel 2040 und den Klimazielen der Städte. Stuttgart und Freiburg wollen bis 2035 klimaneutral sein, Mannheim, Heidelberg und Tübingen sogar schon 2030. Lieb kritisiert heftig das sogenannte Eckpunktepapier des Kabinetts, welche das Landeskonzept Klima und Mobilität des Verkehrsministeriums aufweiche. „Der Verzicht auf Klimaschutz im Verkehr käme uns insgesamt viel teurer als jetzt konsequent die Maßnahmen umzusetzen. Die Bevölkerung erwartet, dass die Politik nicht nur Ziele vereinbart, sondern auch dafür sorgt, dass diese erreicht werden“, so Lieb. Dies erfordere eine Abkehr von immer mehr Straßenausbau und Straßenneubau sowie eine Umschichtung auf den Fuß-, Rad- und Schienenverkehr.
An die Studie „Mobiles Baden-Württemberg“ von 2017 erinnert der stellvertretende BUND-Landesvorsitzende Stefan Flaig. In ihr war der Pfad in die klimaneutrale Mobilität vorgezeichnet. Er bezweifelt, dass das Landeskonzept mit seinen Maßnahmen dafür schon ausreiche. „Ohne schnelle Verminderung des Autoverkehrs wird es nicht gehen!“ ist Flaig überzeugt. Er weist darauf hin, dass die Umstellung aller Verbrenner auf E-Mobile nicht ausreiche und fordert dringend den politischen Mut zu Beschränkungen für den Autoverkehr, um die Menschen weg vom eigenen Pkw in die selbstaktive Mobilität und in den öffentlichen Verkehr zu bekommen.
Die Position der Gewerkschaften vertritt Kai Burmeister, Vorsitzender des DGB Baden-Württemberg: „So wie sich der Klimawandel beschleunigt, können Klimaziele gar nicht ambitioniert genug sein. Der DGB Baden-Württemberg unterstützt die konkreten Maßnahmen des Landeskonzeptes Mobilität und Klima ausdrücklich. Die gesteckten Ziele können aber nur erreicht werden, wenn die Menschen mitgenommen werden: Der Busfahrer auf der Schwäbischen Alb genauso wie die Krankenschwester, die nach der Nachtschicht aufs Auto angewiesen ist. Entscheidend wird zum einen sein, die benötigten Fachkräfte für den ÖPNV-Ausbau zu gewinnen. Zum anderen braucht es massive Investitionen für den Ausbau klimaschonender Mobilitätsangebote. Wir erwarten von der Landesregierung konkrete Finanzierungszusagen und den Willen, den öffentlichen Verkehr zu einer Branche der guten Arbeit zu machen.“
Auf die Bedeutung selbstaktiver Mobilität verweist die Landesvorsitzende des ADFC Gudrun Zühlke. „Die klimaneutrale Mobilität der Zukunft braucht das Fahrrad“, so Zühlke. Doch dafür brauche es sichere und komfortable Infrastruktur und gut ausgebildetes Personal auf allen Ebenen. Das Landeskonzept Klima und Mobilität lade die Umsetzung bei den Kommunen ab, ohne Finanzierung und Unterstützung der Maßnahmen klar zu benennen und deren Umsetzung zu kontrollieren. Zühlke: „So steckt die Radverkehrsförderung und damit die Mobilitätswende weiter im Stau!“
Andreas Schwarz, der Fraktionsvorsitzende der Grünen im Landtag, erinnert an die Erfolge der Landesregierung im Bereich der neuen Mobilität, wie etwa das 365-Euro-Jugendticket. Er ist zuversichtlich, dass die Mobilitätsgarantie kommt, auch wenn sie bislang nicht finanziert sei, unter Verweis auf den nächsten Doppelhaushalt ab 2025. „Wir müssen aber auch Druck auf die Deutsche Bahn AG machen“, so Schwarz. Ein Rückbau der Infrastruktur sei nicht akzeptabel. Weiterhin bekannte sich Schwarz zur Tariftreue im Öffentlichen Nahverkehr.
Für die CDU-Fraktion sprach Thomas Dörflinger. Er betonte die Unterschiede in der Mobilität zwischen Stadt und Land. Ansatzpunkt sei für ihn die Bekämpfung des Fachkräftemangels im ÖPNV. Deutschland müsse seine Vorbildfunktion im Klimaschutz erfüllen. „Wir dürfen das Thema Klimaschutz nicht als Bedrohung sehen“, sondern, so Dörflinger, auch als Innovationschance für die baden-württembergische Wirtschaft. Es komme für ihn nicht in Frage, zur Finanzierung der Mobilitätsgarantie die Einnahmen der Kommunen aus dem Mobilitätspass heranzuziehen. Diese dürften nur als „Add-On“ dienen.
„Ziele setzen ist brutal; Ziele erfüllen ist ein ganz dickes Brett“, so SPD-Fraktionsvorsitzender Andras Stoch. Bis 2030 etwa bräuchte es 15.000 Fachkräfte mehr für den ÖPNV. Er zitierte aus einer von der Landes-SPD in Auftrag gegebenen noch unveröffentlichten DIW-Studie, der zufolge in den kommenden sieben Jahren 32 Milliarden Euro gebraucht würden, um die Ziele des Landes im Verkehrssektor zu erfüllen. Stattdessen werde die Förderung von Bussen und Straßenbahnen reduziert. Er fordert mehr Wahrhaftigkeit in der Debatte. Stoch: „Es geht um riesengroße Umstellungen, auch in den Gewohnheiten der Menschen.“ Das Land habe in der vergangenen Haushaltsperiode 6,6 Milliarden Euro Überschuss erwirtschaftet. Dieses Geld müsse in die Dekarbonisierung investiert werden.
Hans-Dieter Scheerer, der verkehrspolitische Sprecher der FDP, bekräftigte, dass seine Partei hinter den Klimaschutzzielen stehe, um dann die Hemmnisse gegenüber einer Mobilitätswende zu formulieren. Er vertrag die bekannte Ansicht der FDP, der Bürger müsse selbst über die Art seiner Fortbewegung entscheiden. Für die Verdoppelung der Fahrgastzahlen im ÖPNV fehle es am Personal.
In der anschließenden Diskussion, zu der auch das Publikum Beiträge brachte, ging es um Mobilität und Freiheit, soziale Auswirkungen und Mobilitätswende und nicht zuletzt um ihre Finanzierung.
Mobilität und Freiheit
Romeo Edel warf ein, dass das Bundesverfassungsgericht in seinem bahnbrechenden Urteil zur Klimaschutzpolitik von 2021 gefordert hatte, die Freiheit zukünftiger Generationen zu berücksichtigen. Er stellte in Frage, ob die FDP dieses Urteil berücksichtige, wenn sie der Freiheit der heute lebenden Autofahrer einen so hohen Stellenwert einräume. „Die große Freiheit, die haben wir nicht; wir haben auf vielen Strecken den Zwang zum Autoverkehr“, entgegnete ADFC-Vorsitzende Gudrun Zühlke. Die von der FDP geforderte Wahlfreiheit, so ergänzte Matthias Lieb vom BUND, müsse erst einmal hergestellt werden, indem hier Alternativen zum Auto geschaffen werden.
„Entweder Klimaschutz oder Auto“, fasste für den BUND Stefan Flaig zusammen. Die FDP habe sich offensichtlich vom Klimaschutz verabschiedet. Er forderte aktive Einschränkungen für den motorisierten Individualverkehr. 80 Prozent der baden-württembergischen Bevölkerung lebe in Ballungsräumen, die bereits recht gut an den ÖPNV angebunden seien. Der ländliche Raum dürfe nicht als Ausrede verwendet werden, um das Auto zu retten. Sein Fazit: „Flaig: „Wir reden immer noch drumherum, setzen keine Prioritäten. Die Reduzierung des Autoverkehrs wird aus der Debatte ausgeklammert. Je länger das passiert, desto schwieriger und teurer wird die Transformation.“
ADFC-Vorsitzende Zühlke unterstützte Flaigs Appell für Subsistenz im Verkehr: „Mobilität heißt nicht, dass wir sinnlos Kilometer zurücklegen“. Sie will die sogenannte „erzwungene Mobilität“ reduzieren. Dafür fordert ihr Verband Flächenumwidmung zugunsten von Fuß- und Radwegen.
Soziale Auswirkungen der Mobilitätswende
Für einen „Turbo bei der Elektromobilität“ sprach sich Kai Burmeister aus. Die Mobilitätswende sei nicht in allen Gewerkschaften gleichermaßen vermittelbar, daher müsse für die 470.000 Beschäftigten des Kfz-Sektors Alternativen geschaffen werden. Burmeister: „Sie wollen Sicherheit im Wandel haben“. Neue Chancen sieht in diesem Zusammenhang Grünen-Fraktionsvorsitzender Andreas Schwarz in der Brennstoffzellentechnik für LKW. Mit der Ansiedlung von Cellcentric in Weilheim an der Teck würden 300 neue Arbeitsplätze geschaffen.
Ein soziales Argument für den Bau von Umgehungsstraßen fand Thomas Dörflinger von der CDU: Gerade sozial Schwache wohnten im ländlichen Raum entlang von Durchgangsstraßen.
Und auch auf dieser Veranstaltung durfte die Krankenschwester im Schichtdienst nicht fehlen, die sich in Randzeiten in Öffentlichen Verkehrsmitteln unsicher fühlt, die zu diesen Zeiten auch von einer Mobilitätsgarantie nicht profitieren würde und die kein Geld hat, um sich ein Elektroauto zu kaufen.
DGB-Vorsitzender Kai Burmeister fand die Überleitung von den Arbeitsbedingungen für das dringend benötigte Personal im Öffentlichen Verkehr zur Finanzierung: Die Tarifbindung in öffentlichen Ausschreibungen führe nicht nur zur größeren Attraktivität der Arbeitsplätze im ÖPNV, sondern auch zu höheren Einnahmen der öffentlichen Haushalte.
Finanzierung
„Wie kommen die Milliarden in die Infrastruktur?“, fragte Allianz-Sprecher Edel den SPD-Fraktionsvorsitzenden. Für den ist die Erfüllung des Mobilitätsbedürfnisses der Bürgerinnen und Bürger eine Aufgabe der staatlichen Daseinsvorsorge. „Ich finde es ziemlich erbärmlich, wenn im Koalitionsvertrag eine Mobilitätsgarantie steht, aber nicht das notwendige Geld dafür zur Verfügung steht.“ Die Wahrheit, so Stoch, lege im Konkreten. Um die Klimaziele für 2030 zu erreichen, müssen bis dahin 80% der Busse elektrifiziert werden.
Erhebliche Investitionen fordert auch der VCD-Vorsitzende Matthias Lieb: „Wahlmöglichkeiten zu schaffen, kostet Geld“. Dafür sei eine Umschichtung von Finanzen notwendig. Die zu erwartenden Kosten der Klimakatastrophe seien zu groß, um sich die bisherigen Fehlinvestitionen in Straßenbau und fossile Subventionen zu leisten. DGB-Vorsitzender Kai Burmeister pflichtete ihm bei: „Die Gewerkschaften sind für eine Verkehrswende, in der Politik, aber auch in den Betrieben.“ Gebraucht würden mehr und verlässliche Investitionen in die Verkehrswende und die Energiewende sowie mehr Tempo von der Politik.
Weitgehende Einigkeit herrschte in der Kritik an der Deutschen Bahn. FDP-Vertreter Scheer zitierte hier das Gutachten des Bundesverkehrsministeriums, das einen Investitionsstau in Höhe von 80 Milliarden Euro feststellt. Grünen-Fraktionsvorsitzender Schwarz will Druck auf die Bahn ausüben. Er fordert eine Zielvereinbarung zwischen dem Bund und der Bahn AG. Auch der Ausbau von Gäubahn und Rheintalbahn sei eine Bundesaufgabe.
Nach diesem Auftakt mit Politikern und Verbandsvertretern plant die Allianz Mobilitätswende für Baden-Württemberg eine Serie von Veranstaltungen zu Themen des Landeskonzepts Mobilität und Klima. Die Mobilitätswende, räumte Allianz-Sprecher Romeo Edel ein, sei „nicht einfach“. Im Namen der Zivilgesellschaft forderte er mehr Entschiedenheit von der Politik.