Alle potenziellen Koalitionspartner wollen die Mobilitätswende, doch es gibt auch klare Konfliktlinien
Der Themenbereich Klima und Umwelt stand mit 19% bei der WählerInnenentscheidung in Baden-Württemberg in der Prioritätenliste direkt hinter der Wirtschaft (22%). Eine überwältigende Wählermehrheit (60%) vertraut in diesem Bereich den Grünen, während alle anderen Parteien hier nur einstellige Ergebnisse verzeichnen konnten.
Seit vergangenem Sonntag steht fest, dass Bündnis 90/Die Grünen weiterhin Seniorpartner einer Koalition im Stuttgarter Landtag bleiben. Nun beginnen Sondierungsgespräche und Koalitionsverhandlungen zwischen den Parteien. Dabei geht es um eine Fortsetzung der grün-schwarzen oder die Neubildung einer grün-rot-gelben Koalition. Wir haben in die Wahlprogramme geschaut, um Gemeinsamkeiten und Konfliktpotenziale zu identifizieren.
Mobilität als Grundbedürfnis
Mobilität spielt eine bedeutsame Rolle in den Wahlprogrammen aller Parteien. Im grünen Programm steht das Bekenntnis zu Mobilität als „Grundlage für ein gutes selbstbestimmtes Leben“. Die CDU will „den Wunsch der Menschen nach individueller Mobilität möglichst ressourcenschonend umsetzen“. „Mobilität heißt Teilhabe“, so das Bekenntnis der SPD. Im Programm der FDP steht die Mobilität ganz vorne: „Mobilität ist ein wesentliches Grundbedürfnis unserer Gesellschaft und ein Kernelement unserer Freiheit.“
Musterländle: Die Grünen sehen Baden-Württemberg nicht nur als Autoland, sondern auch als Vorreiter moderner Mobilität. Sie wollen, ebenso wie die SPD, die CO2-Emissionen des Sektors bis 2030 um 40 Prozent senken. Die CDU betrachtet Mobilität als Teilbereich einer klimafreundlichen Wirtschaftspolitik, legt sich aber im Verkehrsbereich nicht auf Emissionsziele fest. Die FDP schließlich möchte den Emissionshandel auf andere Sektoren ausweiten, um z.B. im Verkehrssektor die effizientesten Lösungen für CO2-Reduktionen zu identifizieren und ggf. mit im Ausland erzielten Reduktionen zu kompensieren. Auch setzt die FDP kein sektorspezifisches Ziel und will zugunsten der Mobilität im ländlichen Raum den Ausbau von Landesstraßen fördern.
Den Strukturwandel in der Automobil- und Zulieferindustrie thematisieren alle vier Parteien. Die Grünen wollen mit allen Beteiligten den Strategiedialog Automobilwirtschaft fortsetzen, mit dem Ziel, bis 2030 die mit dem Auto zurückgelegten Strecken um 30 Prozent reduzieren. Die damit implizit verbundene Abkehr vom motorisierten Individualverkehr ist ein Alleinstellungsmerkmal des grünen Wahlprogramms. Nach dem Willen der Grünen soll bis 2030 jedes dritte Auto klimaneutral fahren. Die SPD sieht im Ausstieg aus dem Verbrennungsmotor einen ähnlichen Prozess wie beim Kohleausstieg und schlägt einen entsprechenden Dialog auf Bundesebene vor. Einig sind sich die Parteien in Hinsicht auf den raschen Ausbau der Ladeinfrastruktur, wenn auch die FDP dabei „keine Technologie einseitig bevorzugen“ und auch Wasserstoff-Tankstellen aufbauen will.
Strukturwandel und Arbeit
Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer sollen nach dem Willen der Grünen den wirtschaftlichen Strukturwandel aktiv mitgestalten. Die CDU setzt dabei besonders auf Start-Ups und Kapitalbeteiligungen von Arbeitnehmern. Grüne, CDU und SPD wollen Menschen, deren Arbeitsplätze langfristig wegfallen, fit machen für die digitale Zukunft, Grüne und SPD mithilfe eines Fonds. Beide Parteien wollen das Tariftreuegesetz im öffentlichen Vergaberecht fortentwickeln, was gerade für die neu zu schaffenden Stellen im Personennahverkehr relevant ist. Die FDP dagegen will das Tariftreuegesetz ganz abschaffen.
Auch in Erforschung und Ausbau von Energiespeichertechniken, namentlich Batterie-, grüner Wasserstofftechnologien und synthetischer Kraftstoffe, sog. E-Fuels, haben die vier Parteien große Schnittmengen. Allerdings wollen Grüne, CDU und SPD Wasserstoff und E-Fuels im Transportsektor nur dort einsetzen, wo Batterien nach derzeitigem Stand der Technik nicht sinnvoll verbaut werden können, etwa im Schwerlastverkehr oder auf der Schiene. Einzig die FDP hat sich zum Ziel gesetzt, den Verbrennungsmotor für PKWs zu retten um den Strukturwandel der Automobil- und Zulieferindustrie abzufedern. Für sie ist „die einseitige Fokussierung auf die Elektromobilität zur Abkehr des Verkehrs von fossilen Brennstoffen … ein Irrweg“. Daher will sie ein Wasserstoff-Tankstellennetz aufbauen, ein Einsatz von Finanzmitteln, der ganz sicher nicht auf Gegenliebe bei Grünen und SPD stoßen würde.
Mit E-Fuels den Verbrennungsmotor retten?
Für den Ausbau eines verlässlichen Öffentlichen Nahverkehrs mit möglichst engen Taktzeiten setzen sich alle vier Parteien ein. Grüne und SPD wollen das 365-Euro-Ticket umsetzen, gegenfinanziert über eine Nahverkehrsabgabe. Beide wollen bis 2030 eine Verdoppelung der ÖPNV-Nutzung erreichen. Die SPD will zudem einen schrittweisen Zusammenschluss der regionalen Verkehrsverbünde. Einig sind sich die Parteien darin, dass sie stillgelegte Bahnverbindungen reaktivieren wollen, Grüne und CDU nennen hier insbesondere die deutsch-französische Verbindung über den Rhein bei Breisach.
Die Förderung des Radverkehrs ist allen vier Parteien ein Anliegen. Dabei sollen möglichst viele Radwege separat von Straßen geführt werden und der Fußverkehr bei allen Planungen einbezogen werden. Sie sprechen sich für eine bessere Vernetzung aller Verkehrsträger aus. Dafür planen die Grünen 1000 Mobilitätsstationen, an denen der ÖPNV mit Car- und Bikesharing-Angeboten verknüpft wird. Unterstützung erhalten sie darin von SPD und FDP, während Sharing-Angebote im Programm der CDU nicht erwähnt sind.
Viel Einigkeit auch in Bezug auf den Güterverkehr. Grüne, CDU und SPD sprechen sich für eine Verlagerung von der Straße auf Schiene und Wasserstraßen aus. Die Grünen wollen spezifisch Gleisanschlüsse für Industriebetriebe schaffen oder reaktivieren. Auch die FDP will eine bessere Integration und Infrastruktur der Verkehrswege, ohne allerdings das Verlagerungsziel zu teilen. Im Straßengüterverkehr plädieren die Grünen für dem Oberleitungsausbau auf Autobahnen und Fernstraßen, und die FDP will einen genehmigungsfreien Regelbetrieb für Lang-LKWs erreichen. Beide Forderungen erscheinen inhaltlich nicht besonders konsistent mit dem Rest des jeweiligen Wahlprogramms. Grüne, CDU und FDP wollen in der City-Logistik auf der letzten Meile klimaneutrale Verkehrsmittel einsetzen und dafür eine Umschlags-Infrastruktur an den Stadträndern schaffen. Das SPD-Programm macht dazu keine Aussage.
Alle wollen nachhaltige Verkehrspolitik
Im Flugverkehr gibt es den deutlichsten Unterschied zwischen der FDP als Befürworter einer besseren Anbindung und Vernetzung von Regionalflughäfen und den Grünen, die weitere Finanzbeihilfen für Regionalflughäfen einstellen wollen. Die CDU will dagegen mit weiteren Beihilfen die Flughäfen u.a. bei der „Dekarbonisierung des Luftverkehrs“ unterstützen. Im SPD-Wahlprogramm wird der Flugverkehr nicht erwähnt.
Der Ausbau von ÖPNV, Schienenverkehr, Rad- und Fußverkehrsinfrastruktur und die Verlagerung des Gütertransports weg von der Straße werden sich mit großer Sicherheit in einem Koalitionsvertrag wiederfinden. Der alte und neue Verkehrsminister Winfried Hermann, der sich in seinem Wahlkreis Stuttgart II als Direktkandidat durchsetzte, dürfte sein politisches Gewicht in die Waagschale werfen, um auch bei kritischen Themen den eingeschlagenen Weg im Mobilitätsbereich fortzusetzen.
Worüber Wahlprogramme schweigen
Der Blick in die Wahlprogramme zeigt die große Einigkeit der Parteien in Bezug auf die langfristige Zielsetzung einer nachhaltigen Verkehrspolitik. Konfliktpotenzial lauert darin, wirkungsvolle Politikmaßnahmen zur Erreichung dieser Ziele zu finden. Während sich eine Politik der Anreize gut verkauft, werden restriktivere Maßnahmen, etwa zur Eindämmung des motorisierten Individualverkehrs, in Wahlprogrammen nicht in den Vordergrund gestellt. Auffällig ist auch die vielfach nicht vorhandene Unterscheidung zwischen Mobilität als menschlichem Grundbedürfnis und Verkehr als Mittel, mit dem Mobilität realisiert wird. Entsprechend zu kurz kommen die Dimensionen von Daseinsvorsorge und notwendigem Infrastrukturumbau (dezentralisierte Produktion, Stadt und Dorf der kurzen Wege, Regionalisierung der Beschaffung etc.). Die Allianz Mobilitätswende für Baden-Württemberg und ihre UnterstützerInnen werden die Verhandlungen und die spätere Umsetzung der Vereinbarungen kritisch begleiten.